Ein junger Mann steht am Fenster seiner kleinen Wohnung in Minsk. Draußen ziehen dichte Nebelschwaden durch die Straßen, es ist früh am Morgen. Er hat seinen Tee noch in der Hand, als er merkt, dass etwas nicht stimmt. Ein Wagen rollt langsam vorbei. Keine Sirene. Keine Eile. Nur ein kurzer Blick von zwei Männern im Auto – und er weiß: Heute war er zu laut.
Willkommen in Belarus.
Ein Land im Schatten – nur zwei Grenzen von uns entfernt
Wenn wir von autoritären Regimen sprechen, denken wir an ferne Regionen. Doch Belarus liegt direkt neben uns – geografisch in der Mitte Europas. Umgeben von Polen, Litauen, Lettland und der Ukraine scheint es ein Ort, den man leicht erreichen könnte. Und doch ist es wie ein Land hinter Glas: sichtbar, aber unerreichbar.
Mit seinen endlosen Wäldern, klaren Flüssen und stillen Dörfern wirkt es auf den ersten Blick wie ein vergessenes Naturparadies. Doch was viele nicht sehen: Die Stille hier ist keine Idylle – sie ist verordnet.
Der Mann, der niemals ging: Die Geschichte von Alexander Lukaschenko
- Während Europa sich nach dem Kalten Krieg neu ordnet, wird in Belarus ein ehemaliger Kolchos-Direktor Präsident: Alexander Lukaschenko. Ein Mann mit rauer Stimme, Bauernhänden – und einem Gespür für Macht. Anfangs verspricht er Ordnung und Stabilität. Die Menschen – müde vom Umbruch – glauben ihm.
Doch aus dem Versprechen wird ein System.
Zwei Jahre später lässt er über die Ausweitung seiner Macht abstimmen. Das Ergebnis: überwältigend – zumindest auf dem Papier. Bald darauf verschwinden unabhängige Medien, das Parlament wird durch loyale Gefolgsleute ersetzt, und ab 2004 gibt es keine Amtszeitbegrenzung mehr.
Seitdem regiert Lukaschenko ohne echte Kontrolle – ein Alleinherrscher im Zentrum Europas.
Der Preis der Stille: Wie Angst den Alltag bestimmt
Für viele Menschen in Belarus ist das Leben ein Tanz auf Messers Schneide. Nicht weil sie gegen das Regime kämpfen – sondern weil sie leben.
Da ist zum Beispiel Daria, 27, Lehrerin in einer Kleinstadt. Sie erinnert sich, wie ihre Kollegin verhaftet wurde – weil sie in einem privaten Gespräch Zweifel an der Wahl geäußert hatte. Ein Nachbar hatte es gehört und gemeldet.
Oder Anatoli, ein älterer Mann, der im Winter 2021 Besuch von der Polizei bekam. Grund: Die rot-weiße Verpackung eines Fernsehers war in seinem Fenster sichtbar – die Farben der belarussischen Oppositionsbewegung.
Was wie Einzelfälle klingt, ist System. Ein Regime, das den Widerstand nicht mehr lautlos erstickt – sondern ihn gar nicht erst entstehen lässt.
Wenn Klatschen zum Risiko wird – absurde Verbote als Machtinstrument
Belarus hat eine Liste von Verboten, die außerhalb des Landes kaum vorstellbar sind:
- Klatschen in der Öffentlichkeit – verboten. Es galt einst als stille Protestform.
- Teddybären mit Botschaften – verboten. Nach einer Aktion schwedischer Aktivisten im Jahr 2012 wurden Kuscheltiere zum Symbol der Rebellion.
- Die Farben Rot und Weiß – gefährlich. Wer sie trägt, riskiert eine Anzeige.
Einmal wurde ein Mann festgenommen, weil seine Kinder auf dem Spielplatz einen Ball in Oppositionsfarben trugen. Er wusste nicht einmal, was die Farben bedeuteten.
Diese Form der Kontrolle wirkt nicht über Gewalt allein – sondern über Unsicherheit. Man weiß nie genau, was erlaubt ist – und genau das hält die Menschen still.
Junge Leben im Würgegriff: Bildung als Waffe
An den Universitäten von Minsk beginnt der Tag mit Loyalitätsübungen. Wer nicht erscheint, wer Fragen stellt, wer zu kritisch denkt – fliegt. Studenten berichten, dass sie gezwungen werden, an Pro-Regime-Demonstrationen teilzunehmen. Wer sich weigert, verliert mehr als nur seinen Studienplatz.
Ein Student, der anonym bleiben möchte, erzählt:
„Ich hatte nur gesagt, dass ich nicht an Politik interessiert bin. Zwei Tage später wurde ich zum Rektor gerufen. Dann war ich exmatrikuliert.“
In Belarus ist Bildung kein Raum für freie Entfaltung – sondern ein Instrument der Erziehung.
Propaganda in HD: Das staatlich inszenierte Internet
In Belarus gibt es Internet. Doch es ist ein anderes Internet – eines, das vorgibt, die Welt zu zeigen, aber nur ein Spiegel der Staatsmeinung ist.
Das sogenannte „Potemkinsche Internet“ wirkt auf den ersten Blick modern. Doch hinter jeder Seite steckt Zensur. Internationale Nachrichtenportale sind blockiert, westliche Plattformen nicht erreichbar. Schon der Versuch, eine ausländische Seite zu öffnen, kann Konsequenzen haben.
Es ist, als würde man in einem digitalen Aquarium schwimmen – sichtbar für alle, aber ohne jeden Ausweg.
Luxus und Leid: Zwei Welten in einem Land
Während große Teile der Bevölkerung mit steigenden Preisen, maroden Wohnungen und niedrigen Löhnen kämpfen, lebt Lukaschenko in einem anderen Belarus.
18 Residenzen soll er besitzen – abgeschirmt, luxuriös, voller Prunk. Sein eigenes Eishockeystadion. Private Jagdgebiete. Und ein Reichtum, der offiziell nicht existiert, aber dessen Spuren sich nicht mehr verbergen lassen.
Eine Staatsführung, die sich abschottet – und ein Volk, das in der Stille verharrt.
Doch etwas regt sich: Der Sommer 2020
Als im August 2020 erneut Wahlen stattfanden und Lukaschenko sich über 80 % der Stimmen zuschrieb, platzte etwas. Zehntausende Menschen gingen auf die Straße – trotz Gefahr, trotz Drohungen, trotz Angst.
Frauen bildeten Menschenketten. Jugendliche trugen Blumen. Es war kein gewaltsamer Aufstand – sondern ein Ruf nach Würde. Ein Aufbegehren gegen das Gefühl, nicht gehört zu werden.
Die Antwort des Regimes: Massenverhaftungen, Tränengas, Folter. Doch der Moment hat Spuren hinterlassen. Einmal aufgestanden, bleibt das Wissen: Wir waren viele.
Warum Belarus uns alle etwas angeht
Belarus liegt nur wenige Fahrstunden von Berlin entfernt. Die Tatsache, dass ein derart autoritäres Regime mitten in Europa Bestand hat, stellt Fragen – an die europäische Politik, an unsere Werte, an unsere Wachsamkeit.
Was ist uns Freiheit wert, wenn sie nicht nur im eigenen Land verteidigt werden muss?
Ein Land, das nicht aufgibt
Trotz aller Unterdrückung bleibt die Hoffnung. In Flüstern, das weitergetragen wird. In Nachrichten, die über sichere Kanäle verschickt werden. In Liedern, Farben und Gesten, die mehr bedeuten, als sie scheinen.
Belarus ist mehr als seine Regierung. Es sind seine Menschen, seine Kultur, seine Geschichten – und ihr Recht, gehört zu werden.