Der Tunnelraub von Zehlendorf: Wie ein unscheinbarer Dienstagmorgen Berlin veränderte

Ein beleuchteter Tunnel mit Kabeln und Belüftungsschächten – Symbol für einen außergewöhnlich geplanten Raubüberfall.

Berlin, 27. Juni 1995 – ein Sommertag, der für immer im Gedächtnis bleiben sollte. Nicht wegen einer Großveranstaltung oder eines politischen Ereignisses, sondern wegen eines Verbrechens, das mit chirurgischer Präzision vorbereitet war: Der Tunnelraub von Zehlendorf.

Es war kein gewöhnlicher Banküberfall. Kein flüchtiger Einbruch, kein improvisierter Versuch. Es war ein Coup, der über Monate hinweg geplant worden war. Und es war eine Tat, die nicht nur die Ermittlungsbehörden, sondern auch eine ganze Stadt erschütterte – mit Folgen, die bis heute nachwirken.

Der Tattag: Als Routine zur Bedrohung wurde

Dienstagvormittag, Argentinische Allee, Berlin-Zehlendorf. Die Commerzbank-Filiale wirkt an diesem Tag wie jede andere. Zehn Kundinnen und Kunden erledigen ihre Bankgeschäfte, sechs Mitarbeiter:innen gehen ihrer Arbeit nach. Bis um 10:15 Uhr ein weißer Lieferwagen vorfährt.

Vier Männer in Overalls und mit Masken stürmen das Gebäude. Was folgt, ist keine hektische Aktion, sondern ein präzise ausgeführter Plan: Die Täter nehmen alle Anwesenden als Geiseln, fesseln sie mit Kabelbindern oder Handschellen und schalten sämtliche Überwachungssysteme aus. Um die Drohkulisse zu untermauern, platzieren sie Handgranaten sichtbar in der Filiale – als stille, aber unmissverständliche Warnung.

Die Polizei wird schnell alarmiert. Das Gelände wird abgeriegelt. Das SEK rückt an. Doch was sich bald zeigt: Die Täter haben nicht vor, die Bank zu verlassen.

Die Forderungen: Geld gegen Zeit

Der Kontakt zur Polizei wird über eine Geisel aufgenommen, die mit einem Umschlag nach draußen geschickt wird. Die Forderung ist klar formuliert: 17 Millionen D-Mark in bar, ein Fluchtfahrzeug und ein Hubschrauber. Im Verlauf der Verhandlungen wird ein Filialleiter als Sprachrohr der Täter eingesetzt – immer unter Beobachtung, stets unter Druck.

Nach stundenlangen Gesprächen übergibt die Polizei schließlich 5,6 Millionen D-Mark, überbracht von einer Geisel, die sich auf allen Vieren nähert – am Hosenbund mit einem Seil gesichert. Doch die Täter bleiben. Die Nacht bricht herein, Ultimaten vergehen – und es passiert: nichts.

Die Entdeckung: Der Fluchtweg unter der Erde

Gegen 2 Uhr morgens meldet sich der Filialleiter erneut: Die Täter seien verschwunden. Das SEK stürmt die Bank – bereit für jeden Widerstand. Doch sie finden nur die Geiseln. Die Täter sind wie vom Erdboden verschluckt.

Bis im Keller ein Loch im Boden entdeckt wird. Ein schmaler Zugang, kaum breiter als 80 Zentimeter. Der Beginn eines über 50 Meter langen Tunnels, der unter mehreren Straßen hindurch in eine unscheinbare Garage führt – versteckt unter Teppichboden und frischem Estrich.

Was sich dort offenbart, ist ein Meisterwerk krimineller Planung: über Monate gebaut, abgestützt mit professioneller Technik, transportierte Erde auf Skateboards herausgeschafft, unauffällig, methodisch, nahezu perfekt.

Die Ermittlungen: Ein einziger Abdruck

Die Sonderkommission „Koba“ nimmt die Arbeit auf – mit kaum verwertbaren Spuren. Doch ein einziger Fingerabdruck führt zu einem ersten Verdächtigen. Die Garage, in die der Tunnel führt, ist offiziell Teil einer Autowerkstatt – doch die Untervermietung war fingiert.

Nach und nach gelingt es der Polizei, fünf der sechs Täter in Deutschland zu fassen, ein weiterer wird im Libanon verhaftet. Die Gruppe besteht aus international vernetzten Kriminellen, angeführt von Männern aus Syrien und dem Libanon.

Die Urteile: Freiheitsstrafen zwischen sechs und zwölf Jahren. Doch ein großer Teil der Beute bleibt verschwunden – darunter vermutlich Geld aus Schließfächern, das nie als offiziell gestohlen gemeldet wurde. Schwarzgeld, das im Verborgenen blieb.

Die andere Seite der Geschichte: Trauma statt Thrill

Während der mediale Fokus auf Tunnelpläne, Beute und Verhaftungen liegt, gerät eine Seite der Geschichte fast in Vergessenheit: die der Geiseln.

Viele von ihnen kämpfen auch Jahre später noch mit den seelischen Folgen. Eine Frau nimmt sich später das Leben. Andere können nie wieder eine Bank betreten. Einige Mitarbeitende verlassen dauerhaft ihren Beruf.

Die Berliner Polizei reagiert ungewöhnlich offen: Sie lädt alle Betroffenen zu einem internen Gespräch ein – erklärt Abläufe, beantwortet Fragen, zeigt Anteilnahme. Der damalige Einsatzleiter sagt später in einem Interview:

„Es war der belastendste Fall meiner gesamten Laufbahn.“

Was bleibt: Ein Lehrstück in Geduld, Planung und Grenzerfahrung

Der Tunnelraub von Zehlendorf war mehr als ein Banküberfall. Er war ein Spiegelbild dessen, wozu minutiöse Planung, technische Raffinesse und kriminelle Energie fähig sind – aber auch ein Testfall für Behörden, für psychologische Nachsorge, für mediale Verantwortung.

Er zeigt:

  • Kriminalität kennt keine Eile: Die Täter hatten monatelang im Untergrund gearbeitet – unbemerkt, diszipliniert, strategisch.
  • Verbrechen wirkt nach: Nicht nur für die Justiz, sondern vor allem für die Betroffenen.
  • Ermittlungen sind oft ein Puzzlespiel: Ein einziger Fingerabdruck reichte, um ein Netz aufzudecken.
  • Mediale Faszination kann blenden: Was spannend klingt, ist für andere ein Trauma.

Der Tunnel unter Berlin – Symbol für mehr als einen Coup

Heute erinnert wenig an das Ereignis von 1995. Die Bank existiert noch, die Straßen rundherum wirken ruhig, fast bieder. Doch unter dem Asphalt liegen Erinnerungen – an einen Tunnel, durch den Täter flohen, während andere zurückblieben, verletzt, verstört, verändert.

Die Geschichte vom Tunnelraub von Zehlendorf ist keine Heldengeschichte. Sie ist ein Stück deutscher Kriminalgeschichte, das uns daran erinnert, wie nah Faszination und Tragödie manchmal beieinanderliegen.

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